KRITON ODER WARUM SOKRATES VOM GEFÄNGNIS NICHT WEGFLIEHT

Dieser Dialog Platons schildert das Gespräch zwischen Sokrates und seinem alten Freund Kriton, der ihn im Gefängnis besucht und Freiheit weg von Athen anbietet. Sokrates verweigert sich, bleibt da den Tod erwartend  und versucht seinen Freund zu überreden, dies sei das beste zu tun.

Ich zeige einen Sokrates, der seine mystische Erfahrung bis ans Ende folgt, und in Beziehung auf die Wahrheit die Leute verachtet (47 a).

Ihn interessiert vor allem die Meinung der Weisen, nicht die Meinung der Meisten. (48 a) Die Überzeugung eines weisen Menschen ist immer stärker als diejenige der Masse. Seine Meinungen haben die Statilität des philosophischen Wis­sens, sind Meinungen aus Prinzipien und werden zu einer philoso­phischen Überzeugung.

Sokrates hat die Kraft des kritischen Denkens entdeckt. In Menon (80 e) lesen wir: “... denn keineswegs bin ich etwa selbst in Ordnung, wenn ich die anderen in Verwirrung bringe; sondern auf alle Weise bin ich selbst auch in Verwirrung und ziehe nur so die anderen mit hinein.” Seine Überzeugungen sind das Resultat eines dialektischen Prozesses, der in Bezug auf sein Leben, seinen Platz in der Gesellschaft, seinen politischen Verantwortlichkeit und seine pädagogischen und philosophischen Mission ein positives Wissen ist. Dieses Wissen ist viel mehr die starke Vereinigung von Vernunft und mystischer Erfahrung.

Man findet Sokrates mystische Erfahrung an Aspekten wie sein Daimon, sein Vertrauen in Träume, seine Besessenheit für die Botschaft des Orakels, sein starker Glauben an der Vernunft und dem ohrenklingen-Phänomen. (54 d). Sein Denken erreicht die Höhe der Verzückung. (Das Gastmahl 175 a, 220 c—d).

Sokrates befindet sich weitweg vom Durchschnittsmenschen, der ihn anklagt. Seine Argumentation zeigt sich unfähig, das Volk von seiner guten Absicht zu überzeugen. Vielleicht ist sein ganzes Leben genau der Grund seiner Verurteilung. Davor hatte Kallikles ihn gewarnt. (Gorgias 486 b)

In allen Situationen folgt Sokrates immer nur die Vernunft, nur den Satz, der ihm bei der Untersuchung der Beste scheint (46 b). Die Vernunft besitzt für ihn eine Festigkeit, die ihn zwingt, konsequent und mutig zu sein (Gorgias 481 c - 482 b).

Er besteht darauf, nur die vernünftigen Meinungen zu achten, die wahr und gerecht sind. Vernünftige Meinungen wie: Ungerechtigkeit nicht mit Ungerechtigkeit zu vergelten; ein guter Mensch tut auf keine Weise, vorsätzlich etwas ungerechtes; nicht das Leben am höchsten achten, sondern das gut Leben, das ist, gerecht und sittlich leben. (48 b, 49 a)

Wer die Gesetze angenommen und ihnen Gehorsamkeit versprochen hat, der muss sein Wort halten. Sonst könnte man ihn vorwerfen, den Untergang oder die Zerstörung der Stadt vorzubereiten und Undankbarkeit gegenüber dem Vaterland zu zeigen (51 b).

Sokrates Methode geht induktiv vor, wenn er von Sachfächern, Leibesübungen z.B., bis zur sittlichen menschlichen Situation übergeht (47 b - d).

Diese Methode gewinnt ihre Kraft mit jedem einzelnen bestätigenden Fall, das macht die Verallgemeinerung einer These aber nur wahrscheinlicher, nicht wahr. Wir finden ähnliche Methodeanwendung im Phaidon, wo Sokrates die Unsterblichkeit der Seele als Schlussfolgerung einer Induktion aufstellt (erster Beweis: der Kreislauf des Lebens; Phaidon 70 d-e).

Es scheint, dass er sich für einen Sachkundigen in sittlichen Dingen hält, für jemanden also, der selbst von Gerechtem und Ungerechtem und von der Wahrheit versteht (48 a).

Sokrates hat die Richter nicht überzeugt, es scheint aber, dass die Gesetze sind, die nicht überzeugt wurden, als ob sie eine eigentliche Existenz hätten, getrennt von den Richtern, und als ob sie nicht eine rein analytische Abstraktion wären. Es ist aber falsch zu behaupten, dass man die Gesetze irgendwie überzeugen kann (51 e). Man überzeugt die Richter und nicht die Gesetze, denn wie kann das Vaterland durch die Richter sprechen? Es wäre ein Fehler, den Richtern zu gehorchen, indem man glaubt, dem Vaterland oder dem Gesetz zu gehorchen.

Ebenfalls kann eine Stadt uns gefallen, ohne dass wir ihre Gesetze gut kennen. Normalerweise kennt man die Gesetze seiner Stadt nicht, man entdeckt nur plötzlich die Grenzen seiner Tätigkeit, wie es Sokrates selber erlebt hat (Vgl. Gorgias 484 d).

Wenn Sokrates vor dem Tod, aus der Stadt nicht weggeht, ist mehr eine Stolzesangelegenheit, eine unwiderrufliche Verpflichtung gegenüber seinem eigenen Wort, seiner Versprechung, seiner philosophischen Pflicht, das ist, über Tugend, Gerechtigkeit, Ordnung und Gesetz Reden vorzubringen (52-54)

Basilea, 5 de junio de 1992